Es ist alles dunkel. Ich kann die Hand vor Augen nicht erkennen. So schwarz ist die Nacht. Finsternis. Überall. Finster auch in mir. Ich sehe nichts. Die Nacht legt sich auf meine Seele wie ein schwarzer Schleier. So fühlt sich Trauer an.
Schwarz ist die Farbe der Trauer. Schwarz sind heute auch die Paramente in unserer Kirche. Schwarz ist der Karfreitag, denn es ist der Tag des Todes. Jesus stirbt am Kreuz. Es ist kein sanftes Entschlafen, sondern ein furchtbar einsamer, schmerzhafter Tod. In die Stille schreit der Verzweifelte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Warum, Gott? Warum verlässt du mich? Dieses Gefühl ist mir nicht fremd. Wo bist du Gott in all dem Leiden? Wo strahlt dein Licht und erhellt die Finsternis? Es ist dunkel. Ich kann nichts erkennen. Außer dem Menschen am Kreuz. Er leidet. Das sehe ich.
Über den Leidenden schreibt einer, der Gottes Zukunft sah, der Prophet Jesaja im 52. und 53. Kapitel:
Seht her, mein Knecht wird Erfolg haben.
Er wird in die allerhöchste Stellung erhoben.
Viele haben sich entsetzt von ihm abgewandt,
zur Unkenntlichkeit entstellt sah er aus.
Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen.
Doch dann werden viele Völker über ihn staunen, und Königen wird es die Sprache verschlagen.
Denn sie sehen, was ihnen keiner je erzählt hat. Sie erleben, was sie noch nie gehört haben.
Wer hätte geglaubt, was uns zu Ohren gekommen ist?
Wer hätte für möglich gehalten, dass der Herr an einem solchen Menschen seine Macht zeigt?
Er wuchs vor seinen Augen auf wie ein Spross, wie ein Trieb aus trockenem Boden.
Er hatte keine Gestalt, die schön anzusehen war.
Sein Anblick war keine Freude für uns.
Er wurde von den Leuten verachtet und gemieden.
Schmerzen und Krankheit waren ihm wohl vertraut.
Er war einer, vor dem man das Gesicht verhüllt.
Alle haben ihn verachtet, auch wir wollten nichts von ihm wissen.
In Wahrheit hat er unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich genommen.
Wir aber hielten ihn für einen Ausgestoßenen, der von Gott geschlagen und gedemütigt wird.
Doch er wurde gequält, weil wir schuldig waren.
Er wurde misshandelt, weil wir uns verfehlt hatten.
Er ertrug die Schläge, damit wir Frieden haben.
Er wurde verwundet, damit wir geheilt werden.
Wir hatten uns verirrt wie Schafe.
Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Weg.
Aber der Herr lud all unsere Schuld auf ihn.
Er wurde misshandelt, aber er nahm es hin.
Er sagte kein einziges Wort.
Er blieb stumm wie ein Lamm, das man zum Schlachten bringt.
Wie ein Schaf, das geschoren wird, nahm er alles hin und sagte kein einziges Wort.
Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zur Hinrichtung geführt.
Aber wen kümmert sein Schicksal?
Er wurde abgeschnitten vom Land der Lebenden.
Weil sein Volk schuldig war, traf ihn der Tod.
Man begrub ihn bei den Verbrechern, bei den Übeltätern fand er sein Grab.
Dabei hatte er keine Gewalttat begangen, keine Lüge war ihm über die Lippen gekommen.
Es war der Plan des Herrn, ihn zu schlagen und leiden zu lassen.
Er setzte sein Leben für andere ein und trug an ihrer Stelle die Schuld.
Darum wird er viele Nachkommen haben und lange leben.
Durch ihn führt der Herr seinen Plan zum Erfolg.
Nachdem er so viel erduldet hat, wird er sich wieder sattsehen am Licht.
Mein Knecht kennt meinen Willen.
Er ist gerecht und bringt vielen Gerechtigkeit.
Ihre Schuld nimmt er auf sich.
Darum belohne ich ihn: Mit vielen anderen gebe ich ihm Anteil an der Beute.
Mit zahlreichen Leuten wird er sie sich teilen.
Denn er hat sein Leben dem Tod preisgegeben und ließ sich zu den Schuldigen zählen.
Er trug die Sünden von vielen Menschen und trat für die Schuldigen ein.
Als Gedicht formuliert der Prophet Jesaja das so genannte vierte Gottesknechtslied. In kunstvoller Sprache führt es aus, was wir am Kreuz sehen: den Gequälten und Gefolterten, den Verachteten und Geschmähten, den vollkommen Entstellten und Sterbenden.
Neben unsere Sprachlosigkeit setzt der Prophet Antworten auf das „Warum“. Er lässt Gott sprechen und den leidenden Knecht beschreiben. Auf einmal wird deutlich: Wir sehen das Leid, aber dahinter verbirgt sich die Erlösung. Daher hören wir in Lesungen und Gebeten, in Liedern und Andachten immer wieder den gleichen Satz: „Jesus Christus starb für uns am Kreuz.“
Es ist dieses große „Für uns“, das über der Finsternis des Karfreitags steht.
Die Vorstellung, dass ein Unschuldiger für mich etwas auf sich nimmt, um etwas zu sühnen, ist mir fremd. Und doch steht diese Vorstellung hinter dem, was Jesaja sagt und hinter der neutestamentlichen Vorstellung des so genannten Opfertodes. Für unsere Sünden, das heißt für alles, was uns von Gott trennt, starb Jesus. Er starb, damit wir Gott ganz nahe sein können. Das ist der theologische Gedanke hinter dem Kreuzestod Jesu.
Der Gedanke von Opfern – den kennen wir auch heute noch sehr gut.
Auch wir bringen Opfer. Wir verzichten auf so einiges, auf unsere Freiheit, auf Reisen und Kontakte, auf frühere Normalität. Mehr oder weniger freiwillig bringen wir diese Opfer, weil wir hoffen, dass wir damit etwas erreichen. Doch auch in anderen Zusammenhängen bringen Menschen Opfer: Die Sportlerin opfert einen Großteil ihrer Freizeit für ihr Training. Der Abiturient opfert seine Zeit, um für die Aufnahmeprüfung an der Uni zu lernen. Wir legen Geld in den Opferkasten und verzichten damit auf anderes, was wir dafür hätten kaufen können. Kurzum: Wir opfern Zeit und Geld für bestimmte Ziele, für unseren Erfolg oder den Erfolg unserer Kinder, für Menschen in Not oder andere persönliche Ziele, die uns wichtig sind. Wenn ich etwas opfere, um damit ein Ziel zu erreichen, sehe weiß ich, wofür mein Opfer gut ist. Es lohnt sich eben!
Lohnt es sich auch für Gott? Jesaja sagt: Es war der Plan des Herrn, ihn zu schlagen und leiden zu lassen. Er setzte sein Leben für andere ein und trug an ihrer Stelle die Schuld. Darum wird er viele Nachkommen haben und lange leben. Durch ihn führt der Herr seinen Plan zum Erfolg. Nachdem er so viel erduldet hat, wird er sich wieder sattsehen am Licht.
Das Ziel ist formuliert: Gottes Plan führt zum Erfolg. Der Erfolg heißt: raus aus der Dunkelheit! Es wird Licht werden, an dem er sich satt sehen wird. Es werde Licht! So wie ganz am Anfang. Gott fängt nochmal an. Eröffnet neue Chancen. Doch er macht es diesmal anders, er muss es anders machen, weil schon so vieles passiert ist auf seiner Welt.
Er selbst geht hinein ins Dunkle. Er durchlebt die finsterste Nacht. Er selbst stirbt am Kreuz. Er leidet – mit uns, in jedem Moment.
Jetzt sehe ich trotz Dunkelheit etwas. Meine Augen haben sich an die Finsternis gewöhnt. So ist es an Karfreitag. Das Dunkel bleibt – genauso wie die Trauer bleibt. Aber es bleibt nicht für immer. Heute aber schon. Es ist still. Ein stiller Feiertag. Da höre ich manches besser, vor allem in mir drin. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Noch höre ich deine Antwort nicht. Aber ich ahne mit Jesaja, dass es ein Licht geben wird, an dem ich mich sattsehen werde.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.