„Lieber Gott!“ so beginnen viele Gebete. „Lieber Gott!“ – das setzt voraus, dass Gott lieb ist. Lieb? Diese Worte bleiben manchem im Hals stecken, kommen nicht über die Lippen.
Markus betet schon seit Jahren nicht mehr zum „lieben Gott“. Als Kind war der liebe Gott lieb gewesen. Damals war die Welt für ihn noch in Ordnung und Gott passte auf ihn auf. Das hatte er von seinen Eltern gehört und seiner Oma, das war auch so im Kindergarten gewesen und im Kindergottesdienst. „Lieber Gott“, so hatten seine Gebete immer angefangen. Irgendwann hatten die Gebete abgenommen, aber am lieben Gott hatte er noch nicht gezweifelt. Dann kam der furchtbare Tag, an dem sein Freund Michael mit dem Motorrad verunglückte. Die Ärzte taten alles, um sein Leben zu retten. Wochenlang lag er im Koma. Er wachte nie wieder auf. Damals geriet die Welt für ihn aus den Fugen. Er hatte wieder angefangen zu beten. Wenn Gott lieb wäre, würde er ihn doch erhören? Doch nichts geschah. Michael starb. Seitdem war Gott nicht mehr lieb. Ja, war er überhaupt noch da? Markus weiß es nicht. Er betet schon seit Jahren nicht mehr.
Liebe Gemeinde, wie halten Sie es mit dem „lieben Gott“? Auch heute Morgen sitzen viele Menschen hier, die wahrscheinlich allen Grund hätten, Gott nicht für lieb zu halten. Und vielleicht tun sie es auch nicht. Gegen das Bild vom lieben Gott stehen Erfahrungen, die manche im Leben machen mussten: der Verlust eines geliebten Menschen, das schmerzhafte Ende einer Partnerschaft, der Verlust der Arbeitsstelle, schlimme Krankheit, Existenznot… Dazu die Erfahrungen einer Welt, in der wir leben, wo vieles nicht nach einem lieben Gott aussieht. Angst, Zerstörung, Gewalt.
Diese Erfahrungen machte auch einer, der im Jahr 587 vor Christus nach Babylon verschleppt wurde. Seine Heimatstadt Jerusalem lag in Trümmern, sein Haus auch. Das Haus Gottes, der Tempel, lag in Schutt und Asche. Nichts war ihm geblieben außer seiner Erinnerung uns seiner Sprache. So formuliert er die so genannten Klagelieder. Das ist ein kleines Büchlein im Alten Testament. Das Buch der Klagelieder ist ein einziges Gebet. Es beginnt aber nicht mit „lieber Gott“. Ganz im Gegenteil. Wir erfahren darin, wie schlimm es den Beter, ja das ganze Volk Israel getroffen hat. Drastisch wird Gott das ganze Elend vorgehalten. Es ist eine große Klage.
Die Klage ist eine ganz wichtige Form des Gebets. Wir können, ja wir sollen Gott sagen, was uns bewegt, was uns das Leben so schwer macht. Jetzt könnte man natürlich sagen: Warum eigentlich? Gott weiß doch genau, wie es uns geht! Und ja, das stimmt. Aber es tut uns und unserer Seele unendlich gut, wenn wir diese Last auch wörtlich abladen und nicht in uns verschließen. In uns drin ist nämlich nur begrenzter Raum, um die Not einzuschließen und mit uns rumzuschleppen. Klagen heißt das bei Gott abzuladen, was nicht mehr reinpasst, was uns zu schwer wird. Das ist der erste Schritt, eine ganz wichtige Form des Gebets.
In einem zweiten Schritt folgt die Erinnerung. Manchmal fällt die Erinnerung in einer elenden Lage besonders schwer, denn sie tut weh. Markus erinnert sich an die Zeit, als Michael noch lebte. So vieles haben sie gemeinsam gemacht: als kleine Jungs im Garten gezeltet, den großen Nachbarsjungen verprügelt, der sie immer so geärgert hat. Sie sind zusammen zum Fußball gegangen und haben sich gegenseitig die Hausaufgaben abschreiben lassen. Sie hatten sich gleichzeitig in dasselbe Mädchen verliebt und am Ende hatte sie einen ganz anderen erwählt und Markus und Michael hatten darüber gelacht. Es war eine echte Freundschaft zwischen ihnen gewesen. Da war einfach Vertrauen zwischen ihnen – unausgesprochen und stark.
Gott war dabei gewesen. Ganz selbstverständlich. Ab und an hatte Markus an ihn gedacht und sich darüber gefreut. Er fühlte sich behütet und begleitet, bis zu dem Tag, an dem der Unfall passierte.
Hat Gott Michael oder Markus verlassen? Angesichts so schlimmer Erfahrungen liegt die Vermutung nahe. Viele Menschen, Menschen aus der Bibel und Menschen heute, haben etwas anderes erfahren: Gerade da, wo die Welt aus den Fugen geriet, war Gott der einzige, der Halt bot. Er war da in den schönsten Momenten, aber auch in den schwersten. Aus diesem Vertrauen heraus spricht der heutige Predigttext. Ich lese aus dem 3. Kapitel der Klagelieder:
Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.
Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. (Klg 3,22-26.31-32)
Der dritte Schritt des Gebetes ist das Lob. Es ist aber nicht einfach nur ein Gebet an den „lieben Gott“. Dieses Lob ist getränkt mit Erfahrungen und Erinnerungen. Es kommt aus dem tiefsten Grund der Seele. Der Herr ist mein Teil, spricht die Seele, darum will ich auf ihn hoffen. Dieser Vers erinnert im Hebräischen an die Landesteile, die die einzelnen Stämme Israels zugeteilt bekamen, als sie das Gelobte Land nach über 40 Jahren Wüstenwanderung endlich erreichten. Es sollte keinen Streit geben unter den Stämmen, daher wurde gelost, wer zukünftig in welchem Bereich des Landes wohnen sollte. Jeder bekam seinen Teil. Nur ein Stamm bekam kein Land, der Stamm Levi. Er war fortan für den Kult an der Stiftshütte zuständig. Das war der Ort, an dem die Zehn Gebote aufbewahrt wurden. Hier war für die Israeliten Gottes Gegenwart ganz besonders spürbar. Später wurden die Zehn Gebote im Allerheiligsten des Tempels aufbewahrt. Auch hier stellten die Leviten das Kultpersonal.
Als die Klagelieder entstehen, gibt es den Tempel nicht mehr. Die Welt war aus den Fugen geraten. Aber Gott nicht. Er war derselbe und so machten die Menschen die Erfahrung, dass nicht nur der Stamm Levi, sondern alle Menschen Anteil und Zugang zu Gottes Gegenwart bekommen haben. Das Land war verloren, aber Gott nicht. Das ist die große Hoffnung, auf die der Beter der Klagelieder baut. Das erfährt er als großen Trost, als Grund der Freude.
Hinter dem „lieben Gott“ verbirgt sich ein Gott, den wir niemals erfassen, nie ganz verstehen können. Aber wir können Erfahrungen mit ihm machen, an jedem neuen Tag. Es gibt sicher Tage, an denen es stimmig ist, Gott als „lieben Gott“ anzureden. Zu anderen Zeiten ist es vielleicht der verborgene, rätselhafte Gott? Eines ist er aber immer: der Zuhörende, der Anwesende, der Zugewandte.
Gott verlässt uns nicht. Das hat er versprochen. Er begleitet uns wie ein Freund oder eine Freundin, denen wir vertrauen, mit denen wir wachsen. Manchmal ist es auch in einer Freundschaft so, dass eine Weile der Kontakt unterbricht. Wenn aber die Freundschaft echt ist, wird sie immer wieder eine neue Chance bekommen, wenn wir das wollen. So ist es auch mit Gottes Freundschaft.
Amen.