(1. Bilder im Kopf – Wenn Albträume Wirklichkeit werden)
Liebe Gemeinde,
manche Bilder im Kopf vergisst man nicht. Manche Bilder in der Zeitung oder im Fernsehen würde ich am liebsten nie gesehen haben: Schlachtfelder, Kriegsbilder, Bilder von ungeheurem Leid und Verzweiflung, von verhungerten Menschen, Bilder des Terrors. Diese Bilder bleiben im Kopf. Ich werde sie nicht los. Manche Leute sagen: „Ich schaue schon gar kein Fernsehen mehr. Ich tue mir das nicht mehr an.“ Dann werde ich die Bilder los. Aber nur für einen Augenblick. Denn ich weiß: Das sind nicht nur Albträume. Das ist echt. Das ist wirklich passiert. Tod. Terror. Leid. Wahrgewordene Albträume.
(2. Prophetischer Albtraum)
Ein Albtraum aus biblischer Zeit ist heute Predigttext. Da träumt einer mit Namen Hesekiel, ein Prophet. Auch er lebte in Zeiten wahrgewordener Albträume. Israel lag in Schutt und Asche, zerstört durch kriegerische Auseinandersetzungen mit den mächtigen Nachbarn. Menschen auf der Flucht. Kinder ohne Hoffnung. So war das damals. Und da träumt Hesekiel und schreibt es auf:
Die Hand des Herrn ergriff mich und ich hatte eine Vision:
Der Herr führte mich durch seinen Geist hinaus und brachte mich mitten in eine Ebene. Dort lagen überall Knochen. Gott führte mich an den Knochen vorbei und in der Ebene umher. Die ganze Ebene lag voller Knochen, die völlig ausgetrocknet waren.
Bilder im Kopf, die man nicht vergisst. Überall Knochen. Verstreut liegen sie da – nicht begraben, ausgetrocknet. Was für ein Grauen! Was für ein Text, heute am Pfingstsonntag. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Die Predigttexte sind vorgegeben. Wer sucht sich das Grauen schon aus? Wenn es im Fernsehen zu heftig wird, schalte ich um oder besser ganz ab. Aber die Wirklichkeit lässt sich nicht abschalten. Und so stelle ich mich – der Wirklichkeit und dem Predigttext.
(3. Worte gegen das Grauen)
Hesekiel berichtet weiter:
Gott sagte zu mir: »Du Mensch, können diese Knochen wieder lebendig werden?«
Ich antwortete ihm: »Herr, mein Gott, du weißt es!«
Da sagte er zu mir: »Rede als Prophet zu diesen Knochen und sag zu ihnen: Ihr vertrockneten Knochen, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott, der Herr zu diesen Knochen: Ich selbst gebe meinen Geist in euch und ihr werdet wieder lebendig! Ich verbinde euch mit Sehnen und lasse Fleisch darüber wachsen. Ich überziehe euch mit Haut und gebe euch Lebensgeist. So werdet ihr wieder lebendig. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin.«
Ich redete als Prophet, wie er mir befohlen hatte.
Noch während ich redete, wurde es laut und die Erde bebte. Die Knochen rückten zueinander,
jeder Knochen an seinen Platz. Ich sah, wie sie mit Sehnen verbunden wurden und wie Fleisch darüber wuchs. Dann wurden sie mit Haut überzogen, aber Lebensgeist war noch nicht in ihnen.
Können die Knochen wieder lebendig werden? Alles spricht dagegen.
Die Dichterin Marie Luise Kaschnitz verarbeitete ihre Erfahrungen in folgendem Gedicht:
Die Mutigen wissen
Dass sie nicht auferstehen
Dass kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Dass sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Dass nichts
ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig
Hesekiel ist auch nicht mutig. Er weiß nicht wie und wann es passiert. Aber er weiß, dass Gott es weiß. Als Prophet soll er reden. Und so tut er, wie Gott es ihm aufgetragen hat. Die Bilder verändern sich. Weniger gruselig sind sie nicht. Die Knochen fangen an sich zu bewegen, sich zu ordnen und werden wieder zu Körpern aus Fleisch und Blut. Auch diese Bilder bleiben im Kopf hängen. Gut ist es nicht. Denn lebendig sind sie nicht. Die Hülle ist wieder zusammengefügt. „Aber“, so stellt Hesekiel fest, „der Lebensgeist war noch nicht in ihnen“.
(4. Mehr als Worte – Gottes Geist)
Da sagte Gott zu mir: »Rede als Prophet zu diesem Lebensgeist! Ja, du Mensch, rede als Prophet zum Geist und sag: So spricht Gott, der Herr! Geist, komm herbei aus den vier Himmelsrichtungen! Hauch diese Toten an, damit sie wieder lebendig werden.«
Ich redete als Prophet, wie er mir befohlen hatte.
Da kam Lebensgeist in sie und sie wurden wieder lebendig. Sie standen auf – es war eine sehr große Menschenmenge.
Lied: EG 154,2: Tief liegt des Todes Schatten auf der Welt.
Aber dein Glanz die Finsternis erhellt.
Dein Lebenshauch bewegt das Totenfeld.
Halleluja, Halleluja!
Es kommt Leben ins Totenfeld! Der Lebensgeist wirkt durch das Wort, das Hesekiel sagt. Gott hat es ihm in den Mund gelegt. Worte gegen den Tod. Worte gegen den Hass. Worte gegen das Morden.
Und die Worte wirken. Denn Gottes Geist wirkt. Lebensworte sind das. Worte, die alles verändern.
Auch wir haben solche Worte. Es sind Worte, die Gott uns durch Jesus Christus gegeben hat und die auch wir in den Mund nehmen dürfen, ja müssen:
»Ich lebe, und ihr sollt auch leben.«
»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
»Was Ihr einem von den anderen getan habt, das habt ihr mir getan.«
Diese Worte können die Welt verändern. Aber zunächst einmal sind es nur Worte und vielen anderen. Wir können sie sagen, wir müssen sie sagen. Bewirken sie etwas?
Ich hoffe darauf. Und ich verlasse mich darauf. Denn auch bei Hesekiel war es so. Bei ihm und bei vielen anderen. Es kommt Leben in den Tod und Liebe in den Hass. Deshalb sage ich die Worte, immer wieder. Darum höre ich nicht auf – und ihr – hört auch nicht auf! Sagt, was Gott sagt. Es könnte wirken. In eurem Leben. In der Welt. In unserer Kirche.
(5. Für wen sind die Worte?)
Gott sagte zu mir: Du Mensch, diese Knochen stehen für die Israeliten Sie sagen: »Unsere Knochen sind vertrocknet. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!«
Darum rede als Prophet und sag zu ihnen: »So spricht Gott, der Herr! Ich öffne eure Gräber und lasse euch herauskommen, denn ihr seid mein Volk. Dann bringe ich euch in das Land Israels. So werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin: Ich öffne eure Gräber und lasse euch herauskommen, denn ihr seid mein Volk.
Und ich sage Ja und Amen dazu. Und ich sage Nein dazu.
Denn wir sind nicht dieses Volk. Der Prophet Hesekiel spricht erstmal nicht zu allen.
Er spricht zu einem Volk. Er spricht im Namen Gottes zu Gottes Volk Israel.
Die hatten den Tod erlebt. Ihr Land war vernichtet worden – so, wie heute wieder Menschen gibt, die das Land Israel vernichten wollen.
Genauso auch im Jahr 587 vor Christus. Hesekiel war dabei. Ihr Land war vernichtet. Sie waren verschleppt. Sie waren wie tot. Da hat auch Abschalten nichts geholfen. Sie hatten den Tod erlebt. Und seitdem erlebt Gottes Volk Israel das immer wieder. Zuletzt am 7. Oktober. Und davor mit sechs Millionen Toten durch die Schuld unserer Vorfahren.
Nein, diese Worte gelten nicht uns – zuerst gelten sie Gottes Volk.
Man kann gern die Politik des Staates Israel kritisieren. Das tue ich auch – und das taten auch die Propheten damals … auch Hesekiel. Und all die anderen Propheten – Jeremia voran und auch Jesaja.
Aber Kritik an der Politik Israels – und Hass auf Jüdinnen und Juden: Das sind zwei verschiedene Dinge. Das eine ist legitim. Das andere ist Sünde. Wer heute in den Hass auf »die Juden« einstimmt – es ist ein Grauen, wie viele antisemitische Taten in den letzten Monaten verübt wurden – wer das tut, der lästert Gott.
Nein, wir sind nicht dieses Volk. Diesem Volk – Israel – ist das Leben zugesagt – und die Auferstehung aus dem Totenfeld – und eine Geschichte, wo Albträume nicht mehr Wirklichkeit werden.
Nur wenn wir unseren Teil dazu beitragen, dass das Wirklichkeit wird, wenn wir Worte der Liebe statt des Hasses haben und dafür eintreten, dass Leben einkehrt in das Totenfeld. Nur dann gilt diese Verheißung auch für uns.
(6. Pfingsten: Geist und Worte für alle)
Ich gebe meinen Geist in euch und ihr werdet wieder lebendig. Dann bringe ich euch in euer Land. So werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin: Ich habe es angekündigt und werde es tun!« – So lautet der Ausspruch von Gott, dem Herrn.
Diese Worte gelten auch uns. Weil wir Pfingsten feiern. Und weil sie Teil der ganzen Geschichte sind, in die wir hineingehören wie auch Jesus, der Mann aus Nazareth, der für uns gestorben und auferstanden ist. Und der uns Gottes Geist geschenkt hat – das feiern wir nämlich heute, an Pfingsten. Und dieser Geist, der macht auch uns und unsere Totenfelder lebendig. Der erhält unsere Kirche – auch wenn wir manchmal daran zweifeln.
Wenn wir Gott zutrauen, dass er stärker ist als aller Hass und alles Morden, dann wird der Albtraum ein Ende haben. Dann wird das Leben Wirklichkeit. Dann hat die Liebe das letzte Wort. Denn das ist der Grund für Gottes Handeln: Ich gebe meinen Geist in euch und ihr werdet wieder lebendig. Dann bringe ich euch in euer Land. So werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin: Ich habe es angekündigt und werde es tun!
Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
Neugierig gemacht durch den polarisierenden Gottesdienst am Buß- und Bettag habe ich in Ihre Homepage geschaut und in den Predigten „gestöbert“. Dabei festgestellt, dass bei Ihnen generell „schwere Kost“ überwiegt. Diese Predigt macht das besonders deutlich. Sogar in einem Feiertagsgottesdienst, dazu an Pfingsten, gaben Sie bedrückenden Gedankengängen zu Hass, Tod und Knochen Ausdruck, wo in meiner Gemeinde in der Predigt, wie im Gottesdienstablauf, stets ein optimistischer Grundton dominiert. Wie kommt wohl Ihre Gemeinde damit zurecht? Vielleicht ist sie es gewohnt, vorrangig Erdenschwere vermittelt zu bekommen. Ich komme besser zurecht mit einer Kirche, die außer Gottes Wort noch Trost und Zuversicht vermittelt.
Alles Gute für Ihre Zukunft.