Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis (22.09.2024) über Galater 3,26-29 von Kerstin Strauch

Einen kurzen Moment war er unter Wasser gewesen. Ein kurzer Moment – und doch eine Ewigkeit. Er weiß, er wird als ein anderer wieder auftauchen. Er spürt Hände, die ihn halten und hochziehen. Und da ist er wieder oben, im Licht, an der Luft. Schnell füllt sich seine Lunge wieder. Und dann wird ihm ein weißes Gewand übergestreift. Leich und weich und trocken. Erst ein Arm, dann der andere. Er schlüpft hinein. Es fühlt sich gut an. Wie neu geboren. Er hat Christus angezogen.

In den frühen christlichen Gemeinden wurden in der Regel erwachsene Menschen getauft. Die Taufe fand an einem Fluss statt, später auch in Gemeinden, die große Wasserbecken hatten. Der ganze Mensch stieg hinab ins Wasser, wurde bei der Taufe untergetaucht. Wie neugeboren kam er aus dem Wasser und wurde mit einem einfachen weißen Taufgewand bekleidet.

An diese Tradition knüpft Paulus im Galaterbrief an. In den Gemeinden in Galatien prallen Welten aufeinander: Da sind auf der einen Seite die, die von der jüdischen Tradition geprägt sind. Sie halten sich an bestimmt Speisegebote und leben mit der Tora. Auf der anderen Seite sind da Menschen, für die das Judentum fremd ist. Sie haben bisher nur den griechisch-römischen Götterkult gekannt. Meistens werden sie „Heiden“ genannt. Diese Menschen aus unterschiedlichen Welten haben sich von Paulus begeistern lassen und sich für die Taufe entschieden. Daran erinnert Paulus in einem Abschnitt aus dem 3. Kapitel des Galaterbriefes. Er schreibt:

Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben. (Gal 3,26-29)

Paulus sagt hier nicht einfach „Alle Menschen sind gleich!“. Das wäre zu kurz gefasst und widerspricht auch damals den Erfahrungen der Leute. Denn natürlich gibt es große Unterschiede. Was Paulus aber macht, ist, die Unterschiede in der Gemeinde aufzuheben. Was gesamtgesellschaftlich nicht funktioniert, soll wenigstens im Kleinen Wirklichkeit werden. Das ist die Keimzelle, das weiß auch Paulus. Hier beginnt es, in der Gemeinde, ganz klein. Schon Jesus verglich das Wachsen des Reiches Gottes mit einem winzigen Senfkorn, aus dem etwas ganz Großes wird. Hier wird es konkret. Paulus nennt drei markante Unterscheidungen, die für ihn besonders wichtig sind:

  • Es gibt weder Juden noch Griechen. Will heißen: Zwischen vormals religiösen und nichtreligiösen Menschen gibt es keinen Unterschied.
  • Es gibt weder Sklaven noch Freie. Das ist in erster Linie eine ökonomisch-soziale Unterscheidung. Es gibt die freien Bürgerinnen und Bürger und die in Abhängigkeit und Armut lebenden Menschen, die viel weniger Rechte haben. In der Gemeinde soll diese Unterscheidung nicht gelten.
  • Es gibt weder Mann noch Frau. Hier geht es um die geschlechtliche Unterscheidung, die große Konsequenzen für Miteinander hat. In der Regel geht es um ganz klare Rollenzuschreibungen: Der Mann hat das Sagen, die Frau hat sich unterzuordnen. Doch in der Gemeinde, in Christus, gilt das nicht.

Doch auch in der Wirklichkeit des Paulus war klar, dass in diesem binären System ein klares besser und schlechter drinsteckt. Jude ist besser als Grieche, Freier ist besser als Sklave, Mann ist besser als Frau. Auch heute gilt das leider. Oft unausgesprochen: besser jung als alt, besser ohne als mit Migrationshintergrund, besser hetero als homo und so weiter.

Die Influencerin Gülcan Cetin berichtet über ihre Erfahrungen mit Rassismus auf der Plattform X:

„Ob im Supermarkt, auf der Straße, in der U-Bahn: Rassismus begleitet mich überall im Alltag – vor allem auch im Beruf.

Während meiner Ausbildung zur operationstechnischen Assistentin wurde ich im OP gefragt, ob ich unterdrückt werde. Eine andere Frage war, ob mein Vater erlaubt habe, dass ich Nacht- und Bereitschaftsdienste machen darf. Und als mich der Oberarzt zum ersten Mal außerhalb des OPs sah, sagte er: ‚Ich dachte, du bist eine intelligente und emanzipierte Frau.‘ An dem Tag sah er mich zum ersten Mal ohne OP-Haube und mit Kopftuch.

Als ich nach der Ausbildung den Entschluss fasste, Medizin zu studieren, rieten mir Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen ab, weil ich doch sowieso heiraten und viele Kinder bekommen würde. 

Im Lauf meines Medizinstudiums habe ich dann auch von einem Professor Rassismus erfahren. Und von Patientinnen und Patienten habe ich immer wieder gehört, dass ich gut Deutsch spreche. Oft werde ich gefragt, wo ich geboren bin und ob ich zurück „in mein Land“ gehen will.“[1]

Was denke ich, wenn mir ein Mensch begegnet? Normalerweise beginnt mein Gehirn, bestimmte Schubladen zu öffnen. Wir leben mit diesen Kategorisierungen, mit Einordnungen und ja, natürlich auch mit Vorurteilen. Sie helfen uns, uns zurechtzufinden in unserem Alltag, in unserer Welt. Es kommt aber darauf an, wie ich mit diesen Schubladen umgehe. Wie ich auf andere zugehen. Wie sich das auf mein Handeln auswirkt.

Paulus wirbt im Galaterbrief um Verstehen und Einsicht. Er sagt nicht: Lasst das alles sein! Macht einfach keine Unterschiede! Nein, er wirbt um uns als seine Gemeinde. Er erinnert uns an das Fundament.

Was passiert nämlich, wenn ich Christus anziehe?

Damit werden in der Gemeinde alle Unterschiede aufgehoben. Kein Geschlecht, keine Herkunft, keine gesellschaftliche Zuordnung, kein Bildungsstand, kein Reichtum soll einen Unterschied machen. Alle sind eins in Jesus Christus. Indem ich ihn anziehe, mich zu ihm bekenne, zu seiner Gemeinde gehöre, sind mir die Menschen, mit denen ich dort lebe, Brüder und Schwester – gleich vor Gottes Angesicht und Erben der Verheißung Abrahams.

Das Taufkleid ist weiß, einfach, leicht und unterscheidet sich nicht von anderen. Unter diesem Taufkleid spielen ethnische, religiöse, soziale und geschlechtliche Unterschiede keine Rolle. Wer sich Christus anzieht, erlebt Freiheit. Ich darf aufatmen, denn Vorurteile, Kategorisierungen, Schubladen gelten in diesem Moment nicht mehr. Wie neu geboren bin ich und befreit zu neuem Miteinander.

Nicht immer tragen wir unser Taufkleid. Aber was spricht dagegen, jetzt am Anfang der neuen Woche, es symbolisch gesehen aus dem Schrank zu nehmen, überzustreifen und so auf die Menschen zuzugehen, die mir in den nächsten Tagen begegnen.

Denn: Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

[1] https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/deutschland-ich-bin-niemand-rechenschaft-schuldig

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