Liebe Gemeinde,
glauben Sie an Wunder? Laut einer Umfrage tut es immerhin jeder zweite Mensch in Deutschland: an Wunder glauben. Laut eines Berichts in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ steht der Großteil der Befragten dem „Gedanken an Wunder mit großer und sogar wachsender Offenheit“ gegenüber.
Was aber ist eigentlich ein Wunder? Auch hierzu macht die Untersuchung Angaben: „67 Prozent meinten, die Heilung von einer schweren, scheinbar hoffnungslosen Krankheit könne als Wunder bezeichnet werden, 65 Prozent nannten es ein Wunder, wenn jemand einen schweren Unfall unbeschadet übersteht. Fast die Hälfte der Befragten, jeweils 47 Prozent, bezeichnete die Geburt eines Menschen und die Rettung aus scheinbar aussichtslosen Notlagen als Wunder, 42 Prozent nannten die Schönheit der Natur. Die Befragten unterschieden dabei durchaus zwischen dem Sprachgebrauch im Alltag und der grundlegenderen Bedeutung des Begriffs. Außergewöhnliche politische, sportliche oder gesellschaftliche Vorgänge wie das ‚Wunder von Bern‘ oder das ‚Wirtschaftswunder‘ akzeptierten nur wenige Befragte als ‚echte‘ Wunder.“
Ob ein Wunder echt ist oder nicht, ist oft eine sehr persönliche Entscheidung. Die Beurteilung hängt davon ab, ob ich das Erlebte selbst als Wunder bezeichne. Ein Wunder ist dann nicht nur etwas, das Naturgesetze außer Kraft setzt, sondern das wunderbare Erleben einer Situation, eine glückliche Fügung oder die Rettung aus großer Gefahr.
Die Bibel überliefert eine ganze Reihe von Wundergeschichten. Bei all diesen Erzählungen geht es einerseits um das Erleben dieses Wunders durch die Betroffenen und anderseits um das Glaubenszeugnis. Wunder haben mit Gott zu tun!
Eine besonders eindrucksvolle Wundergeschichte überliefert uns das Markusevangelium im vierten Kapitel, dem heutigen Predigttext:
Am Abend dieses Tages sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Wir wollen ans andere Ufer fahren.“
Sie ließen die Volksmenge zurück. Dann fuhren sie mit dem Boot los, in dem er saß. Auch andere Boote fuhren mit.
Da kam ein starker Sturm auf. Die Wellen schlugen ins Boot hinein, so dass es schon voll lief.
Jesus schlief hinten im Boot auf einem Kissen.
Seine Jünger weckten ihn und riefen: „Lehrer! Macht es dir nichts aus, dass wir untergehen?“
Jesus stand auf, bedrohte den Wind und sagte zu dem See: „Werde ruhig! Sei still!“
Da legte sich der Wind und es wurde ganz still.
Und Jesus fragte die Jünger: „Warum habt ihr solche Angst? Wo ist euer Glaube?“
Aber die Jünger überkam große Furcht. Sie fragten sich: „Wer ist er eigentlich? Sogar der Wind und die Wellen gehorchen ihm.“ (Mk 4,35-41, Übersetzung der Basis-Bibel)
Das ist die Erzählung von der Sturmstillung. Jesus vollbringt ein Wunder. Er rettet seine Freunde aus großer Gefahr und lässt die tosende See und den Sturm sich legen. Große Stille legt sich über das Wasser. Ein Wunder.
Glauben Sie an Wunder?
Die Geschichte beginnt mit einer normalen Alltagssituation für die Jünger. Sie sind mit ihrem Lehrer unterwegs. Jesus predigt an vielen Orten rund um den See Genezareth. Sie kommen viel rum und auch an diesem Abend heißt es wieder aufbrechen. „Leinen los!“ Und so legen sie ab, die Jünger mit Jesus in einem Boot. Weitere Boote sind mit unterwegs. Auch sie haben ihre Aufgaben und Ziele.
Daniel ist viel unterwegs. Als Außendienstmitarbeiter hat er zahlreiche Kundenkontakte in ganz Europa. Jeder Tag ist anders und doch hat er seine Routine. Terminkalender checken, Telefonate führen, Mails schreiben, die Reisen planen. Zwischendurch kurze Stopps an Tankstellen oder Gasthöfen. Und abends ist er froh, wenn alles gut gelaufen ist.
Sie sind schon ein ganzes Stück vom Ufer entfernt, da braut sich etwas zusammen. Ein Unwetter zieht auf. Doch die Jünger sind erfahrene Seeleute. Immerhin haben die meisten von ihnen bis vor kurzem als Fischer gearbeitet. Sie sind am See groß geworden. Schon ihre Väter und Großväter haben mit der Fischerei ihr Geld verdient. Der Sturm wird stärker, die Wellen höher. Sie holen das Segel ein, versuchen Ruhe zu bewahren.
Manchmal läuft etwas nicht nach Plan. Auch das gehört zu Daniels Alltag. Ein Termin platzt, das Fahrzeug hat eine Panne, irgendetwas ist ja immer. Daniel ist schon einige hundert Kilometer entfernt, als er sieht, dass seine Firma ihn schon mehrmals versucht hat anzurufen. Das ist komisch. Denn eigentlich ist ja alles abgesprochen. Es klingelt schon wieder. Daniel nimmt ab. Es ist sein Chef. Er redet ungefähr zwei Minuten. Daniel hört wie in Trance zu. Dann fährt er seinen Wagen auf den nächsten Parkplatz. Zwei Worte hallen in seinem Kopf: „Insolvenz“, „Entlassung“. Nach über 15 Jahren ist Daniel seinen Job los. Es rauscht in seinen Ohren, dröhnt in seinem Kopf. Wie gelähmt sitzt er da.
Die Angst steigt hoch. Sie können nichts tun, werden von den Wellen hin und her geschmissen. Jesus hat sich erschöpft in den hinteren Teil des Schiffes gelegt. Endlich konnte er das Steuer einmal abgeben und sich ganz seinen Freunden überlassen. Er ist fest eingeschlafen.
„Wach auf, Herr! Warum schläfst du? Werde wach und verstoß uns nicht für immer!“ Vielleicht gingen den Jüngern diese Worte aus Psalm 44 durch den Kopf. Vielleicht hatte der Evangelist Markus sie im Geist, als er die Geschichte aufschrieb.
Jesus, der Herr, schläft, als die Wellen über dem Boot zusammenschlagen und den Jüngern das Wasser fast bis zum Hals steht.
Schläft Gott, wenn wir ihn so sehr brauchen?
Daniel weiß nicht mehr aus noch ein. Er muss sein Haus abbezahlen, auch auf der neuen Küche ist noch ein Kredit. Seiner Familie hat er dieses Jahr einen Urlaub auf den Kanaren versprochen. Das kann er jetzt vergessen. Er muss sich arbeitslos melden. Wie steht er da? Und vor allem, hat er überhaupt noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt? Dieser Job war damals ein echter Glücksfall für ihn gewesen. Er hat Angst vor dem, was auf ihn zukommt, Angst vor dem Gespräch mit seiner Familie, vor den nächsten Wochen und Monaten. Das Wasser steht ihm bis zum Hals. Gott? Wie soll der helfen?
In höchster Not wecken die Jünger ihren Lehrer. „Jesus, wach auf! Merkst du nicht, dass wir umkommen?“
Dann das Wunder. Jesus befiehlt dem Sturm sich zu legen und dem See still zu sein. Sofort ist die Gefahr vorüber.
Das ist ein echtes Wunder! Von jetzt auf gleich hat sich die Situation zum Guten gekehrt. Wie schön wäre es, wie wunderbar, wenn Daniel zu Hause ankäme und erführe, dass die Firma doch gerettet werden kann. Das wäre auch ein Wunder. Manchmal geschehen solche Wunder.
Vielleicht eröffnet sich für Daniel aber auch ein neuer Weg. Er entscheidet sich zu einer Weiterbildung, die ihm ein ganz neues Tätigkeitsfeld bietet. Die Zeit der Weiterbildung ist hart und die finanziellen Einschränkungen groß, aber am Ende ist er sehr froh über diese Veränderung und es hat sich doch noch alles zum Guten gewendet. Er selber spricht von einem kleinen Wunder.
Wunder sind etwas Wunderbares! Staunend erlebe ich jedes Frühjahr neu, wenn sich die Blumenzwiebel aus dem Erdreich schieben und Blumen in allen möglichen Farben hervorbringen. Wie herrlich ist es jedes Mal neu, die Schönheit des Waldes zu genießen, die Bäume, die imposanten Felsen, die klare Luft. Wunderbar ist es – ein Wunder, was die Natur hervorbringt!
Auch geschehen Dinge, die die Medizin als Wunder bezeichnet. Menschen erwachen nach Jahren aus dem Koma, erfahren Heilung bei eigentlich unheilbaren Krankheiten oder zumindest eine deutliche Linderung der Beschwerden. Doch leider stellen sich diese medizinischen Wunder selten ein. Ich würde sie mir für viele Menschen so sehr wünschen.
Die Geburt eines Kindes bleibt für mich ein Wunder. Natürlich können wir den Vorgang von dem Moment der Zeugung bis zur Geburt naturwissenschaftlich erklären. Aber wenn so ein kleiner Mensch zur Welt kommt und im optimalen Fall das Leben seiner Eltern im positiven Sinne auf den Kopf stellt, ist das doch jedes Mal ein Wunder!
Wunder geschehen und ich bin überzeugt, dass Gott sie bewirken kann. Es macht mich traurig, dass er manchmal keine Wunder bewirkt, wo sie so nötig wären. Diese Seite Gottes bleibt mir verborgen.
Jesus rettete seine Jünger aus Seenot. Seit Anfang des Jahres sind schon wieder mindestens 54 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Im vergangenen Jahr waren es 2328. Für sie gab es keine Rettung.
Immer wieder werden wir Stürme erleben, Momente, in denen wir den Boden unter den Füßen verlieren. Gott will in diesen Momenten unser Halt sein. Wir können uns an ihm festklammern. Er ist da, auch wenn wir meinen, dass er schläft.
Und Jesus fragte die Jünger: „Warum habt ihr solche Angst? Wo ist euer Glaube?“
Das Gegenteil von Glauben ist für Jesus nicht Unglauben, sondern Angst. Diese Angst schnürt uns die Kehle zu und beherrscht uns so sehr, dass keine anderen Gedanken und Gefühle mehr in unseren Kopf passen. Da geht es uns nicht anders als den Jüngern. Das, was sie gerade mit Jesus erlebt haben, übersteigt ihren Verstand. So erzählt Markus weiter:
Aber die Jünger überkam große Furcht. Sie fragten sich: „Wer ist er eigentlich? Sogar der Wind und die Wellen gehorchen ihm.“
An dieser Stelle endet die Geschichte und hält fest, dass die Jünger Jesus noch nicht erkannt haben. Sie wissen nicht, mit wem sie es eigentlich zu tun haben: mit dem Christus, dem Messias, mit Gottes Sohn. Deshalb trauen sie ihm auch nicht zu, was sie mit ihm erleben.
Gott etwas zuzutrauen, darum geht es in dieser Geschichte. Ich traue ihm zu, positive Wenden zu bewirken, Wunder zu tun, Wunderbares geschehen zu lassen. Das tut mir gerade in diesen Zeiten gut, wo so vieles wankt und unsicher ist. Ich will nicht aufgeben daran zu glauben, dass Wunder geschehen können, dass Kriege enden und Hass und Ignoranz und Menschenverachtung. Und ich vertraue auf Gottes Gegenwart, auch wenn die von mir erhofften Wunder ausbleiben. So besingt es der Beter des 107. Psalms:
Und die gen Himmel fuhren und in den Abgrund sanken, dass ihre Seele vor Angst verzagte, […] und wussten keinen Rat mehr, die dann zum Herrn schrien in ihrer Not und er führt sie aus ihren Ängsten und stillte das Ungewitter, dass die Wellen sich legten und sie froh wurden, dass es still geworden war und er sie zum ersehnten Hafen führte. (Ps 107,26-30).
Amen.