Predigt am Sonntag Misericordias Domini über 1. Mose 16,1-16 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde,

es gibt Wörter, die man auch rückwärts lesen kann und die Sinn ergeben. Manche dieser Wörter bedeuten sogar genau dasselbe. Palindrome werden solche Wörter genannt. Davon gibt es einfache, wie zum Beispiel die Namen Anna oder Otto. Aber es gibt sogar ganze Sätze, die ein Palindrom bilden, z.B. dieser hier: Ein Esel lese nie.

Andere Wörter ergeben rückwärts gelesen eine andere Bedeutung, z.B. Leben oder Gras.

Doch nicht nur mit Wörtern kann man das rückwärts Lesen ausprobieren. Es gibt auch Texte, die rückwärts gelesen einen ganz neuen Sinn bekommen. So einen Text gibt es heute als Predigttext. Es ist eine alte Erzählung aus dem 1. Buch Mose. Ich lese aus dem 16. Kapitel (VV. 1-16):

Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar.  Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der HERR hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte. Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der HERR sei Richter zwischen mir und dir. Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh. Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört.  Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen. Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar.

Kinderlosigkeit war für Familien im Altertum eine existentielle Bedrohung. Kinder sicherten das Fortbestehen der Familiensippe und waren die Altersversorgung der Eltern. Auf den Frauen lastete ein hoher Erwartungsdruck. Umso schlimmer war es, wenn der Nachwuchs ausblieb.

So ging es auch Sarai – später wird sie Sara genannt werden. Abram, ihr Mann, und sie haben einen langen gemeinsamen Weg hinter sich. Sie haben auf Gottes Geheiß hin in der Fremde neu angefangen und leben mit einem großen Versprechen. Gott hatte dem Abraham gesagt: Ich will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden. Kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch deine Nachkommen zählen. (1 Mose 13,16) Doch nichts war geschehen. Sarai wurde nicht schwanger.

Wir können kaum erahnen, was in ihr vorgegangen sein mag. Über die Gefühle schweigt sich die Erzählung aus. Aber wir erfahren, dass Sarai sich nicht tatenlos ihrem Schicksal ergab. Wenn Gottes Verheißung sich nicht von selbst einstellt, musste sie eben nachhelfen!

Wie in Großfamilien damals üblich, hatte die Herrin des Hauses eine eigene Leibmagd. Im Gegensatz zu anderen Sklaven und Mägden, durfte sie ganz allein über diese Magd verfügen. Sarais Magd kam aus Ägypten. Genau diese Magd namens Hagar gibt Sarai nun ihrem Mann Abram, um einen Nachkommen zu zeugen. Das war damals ein durchaus legitimer Akt, eine Art Leihmutterschaft.

Doch unkompliziert sind solche Beziehungsgeschichten noch nie gewesen, vor 4000 Jahren genauso wenig wie heute. Die Schwangerschaft lässt nicht lange auf sich warten und auch Hagar scheint eine durchaus willensstarke Frau gewesen zu sein. Sie lässt sich von ihrer Herrin nicht länger was sagen. Sie spielt sich auf, wittert ihre Chance zum sozialen Aufstieg und mehr Anerkennung. Wer könnte es ihr verübeln?! Doch Sarai interveniert. Das geht ihr zu weit. Und Abram gibt seiner Frau Recht und die Verfügungsgewalt über Hagar. Sarai lässt sich das nicht zweimal sagen und wird Hagar ordentlich was gesagt haben. Das wiederum war Hagar zu viel und sie haut ab. Das muss sie sich nicht gefallen lassen! Nur weg hier!

An einer Wüstenquelle macht sie Halt. Sie wird geahnt haben, dass die Quelle ihr zwar eine kurze Pause verschafft, ihr Überleben aber nicht sichern wird. Wie gut, dass sie nicht allein ist. Da wird jemand auf sie aufmerksam. Die Bibel spricht von einem Boten, einem Engel Gottes. Es braucht zunächst nicht viele Worte. Nur das: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Die erste Frage ist leicht zu beantworten, die zweite überhaupt nicht. Da lohnt es, die Geschichte noch einmal von hinten zu lesen.

Am Anfang hatte Sarai die Sache in die Hand genommen. Sie wollte sich nicht länger ihrem Schicksal überlassen. Und es schien alles gut zu sein: Der Ehemann ging mit der Magd ins Bett. Hagar wurde wie geplant schwanger. Der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel beschrieb das in folgenden Worten:

Sara meinte es gut.

Abraham fand es gut.

Und Hagar tat es gut.

Doch es ging nicht lange gut und Sarais Plan drohte zu scheitern. Hagar hatte sich ihre Freiheit genommen und war geflohen. Nun ist sie frei, aber vollkommen allein und einsam. Dieses Gefühl mögen einige von uns gut nachvollziehen können. Wir haben alle Freiheiten. Damit ist aber nicht automatisch Glück und Erfüllung verbunden.

Nun sitzt sie da an dieser Quelle und wird angesprochen. Es ist nicht irgendein Gefasel, kein belangloser Smalltalk. Das merkt Hagar schnell. Sie wird wirklich angesprochen und erkennt bald die Bedeutung dieser Worte. Sie erfährt, dass sie ihren Sohn Ismael nennen soll. Hagar und ihr Kind werden eine Zukunft haben. Ismael – das heißt auf Hebräisch „Gott hört“. Dieser Ismael wird frei und wild sein. Ein ganzes Volk wird sich auf ihn gründen.

Aber nicht nur ihr Sohn erhält einen Namen. Hagar nennt Gott mit Namen: Ihr Gott heißt „El-Roi“, der Gott, der mich sieht.

Gott hört und sieht mich! Genau das hat Hagar erfahren. Wer diese Erfahrung teilt, liest die Geschichte vom Anfang her anders. Denn am Anfang war gerade davon ja gar nichts zu spüren, dass Gott hört und sieht. Und diese Erkenntnis gilt auch für uns. Gerade da, wo wir von Gott überhaupt nicht sehen und spüren, wo er uns vielleicht sogar droht ganz abhandenzukommen sieht und hört Gott genau hin. Deshalb werdet nicht müde, euch ihm mitzuteilen, im Gebet, im Nachdenken, in Gespräch, in der Musik, in der Kunst. Es gibt so viele Möglichkeiten, mit ihm in Kontakt zu treten. Gott bleibt auch ganz nah bei dir, wenn du ihn fern glaubst. Er sieht uns liebevoll an – so merkwürdig wir auch sein mögen. Denn er ist ein Gott, der mich sieht.

Amen.

Schreibe einen Kommentar