Staubig ist es und heiß, als er sich den Berg hinaufschleppt. Er hat das Zeitgefühl verloren. Er geht, schleppt sich und das harte Holz. Es schneidet sich in seine Schultern. Noch ein Schritt. Es tut weh. Hinter ihm läuft sein Vater. Er hat ihn hierhergebracht. „Warum?“, denkt er sich. „Nicht nachdenken, Isaak! Lauf weiter!“ Die Last ist unendlich schwer. Das Holz schneidet in seine Schultern.
Er trägt unendlich schwer. Das Holz schneidet sich in seine Schultern. Aber diesmal läuft sein Vater nicht hinter ihm. Er muss immer weiter, den Berg hinauf. Keiner nimmt ihm die Last ab. Er geht allein. Der Vater schweigt.
Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
Heute ist nichts passiert. Es gab keine Stimme vom Himmel, kein Eingreifen von anderer Stelle. Die Hinrichtung wurde mit römischer Präzision vorbereitet. Er hat das Kreuz selbst hinaufgeschleppt nach Golgatha. Es wird getan, was befohlen wurde. Kein Ausweg für ihn. Kein Einspruch. Der Vater schweigt.
Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
In großen Buchstaben steht es da. Ganz deutlich. Da gibt es nichts zu deuten. Jesus von Nazareth, König der Juden. Das ist er. Ein König am Kreuz, ein verhöhnter, verletzter, verspotteter, misshandelter, verurteilter und hingerichteter König. Und das ist er. Ein König der Verhöhnten, der Verletzten, der Verspotteten, der Misshandelten, der Verurteilten und Hingerichteten. Jesus von Nazareth erlebt, was seinem Volk noch bevorsteht. Getrieben, gefoltert, hingerichtet werden sie, millionenfach. Es wird ausgeführt, was befohlen wurde. Mit militärischer Präzision. Keine Unterbrechung. Kein Einspruch.
Voller Entsetzung stehen wir heute davor und fragen: Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an? Warum haben so wenige etwas dagegen gemacht?
Wie gut, wenn wir diese Fragen, dieses Entsetzen niemals vergessen! Doch dieser Einspruch kommt zu spät. Er kann nichts mehr ungeschehen machen. Was Pilatus damals geschrieben ist, hat sich eingegraben in die Geschichte.
Jesus ist der König der Gefolterten, Misshandelten, Verurteilten, Hingerichteten. Hunderttausende sitzen überall auf der Welt in Abschiebehaft. Menschen werden eingesperrt, weil sie öffentlich ihre Meinung sagen, die nicht mit der Doktrin der Regierung übereinstimmt. Laut der christlichen Hilfsorganisation „Open Doors“ werden weltweit mehr als 380 Millionen Christinnen und Christen in 78 Ländern wegen ihres Glaubens verfolgt. Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an?
Der Vater schweigt.
Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.
Die Soldaten tun, was sie tun müssen. Sie handeln nach dem Befehl. Anschließend handeln sie nach dem Prinzip der Verwertung. Wir nehmen uns, was noch zu gebrauchen ist. Wie schnell sind die Kleider der Zivilisation ausgezogen! Was bleibt ist nackte Gewalt und der nackte Tod. Keiner hilft. Keiner hört. Keiner erbarmt sich über die Nacktheit. Jesus von Nazareth stirbt diesen nackten Tod.
Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Was für ein Schmerz! Das Liebste loslassen zu müssen, ist eine ungeheure Zumutung. Das ist eine Last, die uns aus dem Gleichgewicht bringt. Eine Zumutung an alle.
Damals auf dem Berg, als der Vater das Loslassen üben sollte. Es geht über die Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann. Ungeheuer der Schmerz.
Dann auf dem Berg Golgatha. Maria steht unter dem Kreuz ihres Sohnes. Er konnte so liebevoll sein und so abweisend. Anderen galt seine Zuwendung immer mehr als ihr selbst.
Doch jetzt wendet er sich ihr zu – im Augenblick des nackten Todes. Er bleibt sich treu. Fordert sie auf, sich von ihm abzuwenden und sich fortan einem anderen zuzuwenden.
Diese Liebe zwischen Maria und dem Lieblingsjünger Jesu wird eine besondere sein. Angewiesen aufeinander und verbunden durch die Liebe Jesu.
Das Schweigen wird gebrochen. Der Einspruch kommt von dem, der selbst das Holz tragen musste. Die Spuren sind auf seinem Körper deutlich zu sehen. Jetzt hängt er da, am Kreuz. Und Jesus erhebt das Wort. Er, der geliebte Sohn. Er ist die Liebe. Und diese Liebe spricht, spricht zu denen, die ihn lieben.
Und so werden sie weitergehen: Maria und der Lieblingsjünger und später auch all die anderen, die Jesus loslassen mussten. Sie gehen weiter voller Liebe und voller Schmerz und doch von einer Last befreit. Denn der nackte Tod verschlingt die Liebe nicht. Die Liebe verbindet im Schmerz, in aller Rätselhaftigkeit dieses Todes.
Die Liebe bleibt, in den Lagern dieser Welt, in dem Schmerz der Gefangenen, Gefolterten, Misshandelten. Denn Jesus bleibt. Ihm nimmt keiner etwas bleibt. Der Vater schweigt. Aber Jesus nicht. Seine Liebe bleibt bei uns und verbindet uns, auch dann, wenn wir an unsere Grenzen kommen.
Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.
Amen.